Gedanken zu Corona

Es gibt viele Blickwinkel, durch die man die jetzige Krise, die wir individuell und kollektiv durchmachen, anschauen können.

Eine mögliche Sichtweise möchte ich Euch heute vorstellen: 

 Gleich am Anfang liegt es mir am Herzen, zu erwähnen, dass ich weder die Ernsthaftigkeit von Covid 19 noch die Trauer, die entsteht, wenn man einen geliebten Menschen, egal welchen Alters, verliert,  mit diesen Gedanken herunterspielen möchte.

 Ein für uns unsichtbarer, und dadurch unkontrollierter Virus erscheint plötzlich in unserer vermeintlich sicheren Alltagswelt, in der wir uns so schön eingerichtet hatten. Er bedroht uns – und wir reagieren mit Unsicherheit. Viele sind in Angst und Schrecken versetzt. Vielen wird auf einmal bewusst, dass sie Risikopatienten sind. Und auf einmal platzt die Blase, in der wir uns in Sicherheit und Unsterblichkeit wiegten.

Die Tatsache, dass unser Leben und die Dinge vergänglich sind, hatten wir bis dahin erfolgreich ignoriert. Und der Drang zur alten Normalität, in die vermeintliche Sicherheit zurückzukehren, ist stark. Tod, nein für mich nicht..und Sterben, das möchte ich möglichst sofort wieder vergessen.

 Ob Risikopatient oder nicht, wir haben alle die gleiche Diagnose: Wir sind sterblich und wir werden sterben. Früher oder später… Und dieser Fakt wird uns von Corona, ob wir wollen oder nicht, vor Augen geführt.

 Als Hospizkrankenschwester erlebe ich jeden Tag Menschen, die in ihrer letzte Phase hier in diesem Erdenleben stehen. Manche kommen zu uns ins Hospiz und sterben innerhalb von einigen Tagen. Manche bleiben Monate, mitunter auch Jahre. Jeder dieser Menschen vollzieht ein Prozess. Selten, sehr selten ist jemand dabei, der sich bis zu seiner letzten Minute sträubt, zu gehen. Die allermeisten Menschen sind an irgendeinem Punkt „reif“, und geben sich hin. Viele Menschen bitten darum, endlich sterben zu dürfen.

 Ich lese, dass 92 % der Corona Toten in Italien ein Durchschnittsalter von über 80 Jahre hatte. Wäre es nicht möglich, dass diese Menschen, die auf ein langes Leben zurückblicken konnten, Covid 19 als Möglichkeit des Sterbens, des Verlassens dieses Erdenlebens genommen haben? Bis vor einem Jahrhundert ließen sich die alten Menschen von einer Lungenentzündung (Freund des alten Menschen) dahinraffen. Und das nahm man als natürlichen Prozess hin, der zum Leben gehörte. 

Heute versetzt uns das in Angst und Schrecken. Denn- seien wir doch mal ehrlich – Tod ist für uns so bedrohlich, dass wir alles tun, um niemanden sterben zu lassen. Auch wenn der Mensch fast 100 ist, dement und pflegebedürftig.. und in einem Pflegeheim oft einsam dahinvegetiert.

Wir haben den Tod aus unserem Leben verbannt. Und sehen ihn als Feind an, obwohl er in vielen Fällen, vielleicht sogar (wer weiß, was uns eventuell wunderbares erwartet), ein Erlöser sein kann.

 Ich höre oft das Argument, ja, der Betroffene war noch so fit.. er stand noch voll im Leben.

Ja, das ist für uns ein schwerer Schlag, jemanden Geliebten so plötzlich zu verlieren. Aber für denjenigen könnte es doch auch schön sein, so voll aus dem Leben zu gehen und nicht noch jahrelang ein Pflegefall gewesen zu sein.. Ich zumindest wünschte mir so einen Tod.

 Die große Frage ist, was lernen wir aus dieser Krise? Was soll sie uns unter anderem zeigen?

 Für mich zeigt sie mir wiederum die Vergänglichkeit unseres Lebens vor Augen. Und das ist ein Weckruf für mich, dieses, jetzige Leben, was mir zur Verfügung steht, auszufüllen. Mit dem Sinn, den ich meinem Leben gebe, mit wahrer Freude, mit Dingen, die mich erfüllen. Achtsamer mit meiner Lebenszeit umzugehen, dankbar zu sein, für dieses Abenteuer Leben, mir zu vergegenwärtigen, wie kostbar jede Minute ist, in der ich in den Moment eintauchen kann. Mich zu fragen, was ich zum Wohle der Menschheit hinterlassen möchte. 

Das beinhaltet auch für mich, zurück zu schauen: Wie habe ich gelebt? Was ist mir begegnet? Welche Erfahrungen habe ich machen dürfen? Und was habe ich aus Krisen gelernt? Wo sind all die Geschenke, die mich an diesen Punkt gebracht haben, an dem ich heute stehe.

 Und es beinhaltet auch für mich, nach vorne zu schauen. Was bedeutet Tod eigentlich für mich? Kommt danach nichts mehr oder ist es nur ein Übergang? Wenn es ein Übergang ist, wie sieht denn die Vorstellung des Jenseits für mich aus? 

Unser Leben bedeutet, sich eine Haltung dazu zu erarbeiten, immer wieder den Blick vom außen zu sich nach innen zu richten und zu fühlen. Wo ist meine Wahrheit?…

 Und das macht unser Leben aus: Entwicklung, Veränderung, Reifung … und das macht Freude.

 Wie Hermann Hesse in seinem Gedicht Stufen es so schön in Worte fasst:

 Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe

Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

In andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

Uns neuen Räumen jung entgegen senden,

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Barbara Gemsa

    Liebe Anke Gerstein!
    Ich habe ihr Buch “ Sterben – wie ein Profi“ gelesen. Ich bin begeistert. Hoffentlich können Sie noch viele Menschen inspirieren. Auch ich habe mich von Kindheit an für Tod, Sterben, Beziehungen und den Sinn des Daseins interessiert. Wir scheinen viel Ähnliches empfunden und entdeckt zu haben. Täglich sterben wie viele Mystiker es lehren. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Kraft und göttlichen Seggen!!! Herzlich Barbara Gemsa

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